Begegnungen mit Zigeunern

Aufsatz des Köthensdorfer Heimatforschers Emil Müller aus dem Jahre 1958

Seit mehr als 25 Jahren habe ich keine Zigeuner mehr gesehen. Sie gehörten zu den anderen längst verschwundenen Gestalten der Landstraße, zu den Schweine-, Gänse- und Schaftreibern, den Blechzeug-, Rußbutten- und Wacholdersaft-männern, zu den böhmischen Federhändlern. Man hat ja noch keine rechte Antwort auf die Frage gefunden, welches Land die Heimat der Zigeuner eigentlich ist. Sie selber geben Ägypten als ihr Vaterland an, doch ihre Sprache verweist mehr nach Indien. Urahnen des braunen Volkes sind schon zur Zeit der Kreuzzüge in Europa eingewandert. Im 15. und 16. Jahrhundert verbreiteten sie sich über ganz Europa, wurden jedoch nur in wenigen Ländern (Ungarn und Spanien) wohlwollend behandelt, in allen anderen verfolgt. Nach der Vertreibung der Mauren aus Spanien trafen auch dort das eingewanderte Zigeunervolk die grässlichsten Verfolgungen. Zigeuner galten als Zauberer, Diebe und Betrüger. Das Mittelalter mit seinen Wahnvorstellungen hat viel dazu beigetragen, die Zigeuner mit einem geheimnisvollen Nimbus zu umgeben, vor allem das weibliche Geschlecht zu Zauberinnen und Wahrsagerinnen gemacht. Auch Kindesraub wurde den Zigeunern nachgesagt. Dieser Gedanke spielt in Librettos von Opern und Operetten öfter eine Rolle. Merkwürdig erscheint der Umstand, dass die Zigeuner keiner Religionsgemeinschaft angehören.

Ich hatte in meiner Jugend öfters Begegnungen mit den braunen Leuten und habe sie auf verschiedene Art kennen gelernt. Vieles macht die Fremdlinge interessant. Mein erstes Zusammentreffen ereignete sich an der alten Burgstädt - Lunzenauer Straße, da wo heute der Weg in die Mohsdorfer Straße einmündet. Der Platz war dereinst Wiese, auf welcher eine hohe Pappel stand. Als ich damals hin kam, standen schon viele Neugierige dort. Bald gewahrte ich, dass die Fremdlinge ein krankes Weib in ihrer Mitte in aufopfernder Weise betreuten. Doch der Tod hatte schon seine Krallen nach der Ärmsten ausgestreckt. In der kommenden Nacht verschied die Zigeunerin. Nach einigen Tagen traf man Anstalten zur Beerdigung auf dem alten Burgstädter Friedhof. Am Tage der Bestattung fand sich eine beachtliche Zahl von hiesigen Einwohnern als Trauergefolge am Zigeunerlager ein. Die Majestät des Todes ließ alle Schranken fallen, und der Trauerzug einer geachteten Persönlichkeit konnte nicht ansehnlicher sein. Die Ruhestätte der Verstorbenen kennzeichnete später ein einfaches Kreuz mit der Inschrift: "Hier ruhet Elie Brandin, Pampalon sein Weib". Alljährlich kamen die Zigeuner wieder und versäumten nicht, das Grab ihrer Stammesgenossin zu schmücken.

Um die Mitte der 80er Jahre (des 19. Jahrhunderts) war ich zugegen, als im Garten des Gasthauses "Drei Lilien" in Mohsdorf Zigeuner lagerten. Wilhelm Maas, der Wirt, der auch einen Kramladen unterhielt, gedachte wohl auch, durch sein Entgegenkommen ein kleines Geschäft zu machen. Die Dorfjugend umstand den fremden Besuch und erging sich in Betrachtungen. Da fiel es einem Rohling ein, mit Steinen in das Lager zu werfen. Ein solches Wurfgeschoss landete in einem Wagen, in dem eine Zigeunerin hockte. Das Weib sprang auf und setzte Verwünschungen ausstoßend, hinter dem Missetäter her und schrie: "Dich soll doch gleich der polnische Teufel holen!" Der Zufall wollte, dass der Knabe kurz nach diesem Vorgang erkrankte und starb. Seinen Tod brachten natürlich die abergläubigen Dorfbewohner mit den Verwünschungen des Zigeunerweibes in Verbindung.

Gegen die Unbilden der Witterung waren die Zigeuner ziemlich abgehärtet und unempfindlich. Doch wenn es der Winter gar zu arg trieb, suchten sie bettelnd bei den Bauern Nachtquartier zu erlangen. So erschienen an einem sehr strengen Winterabend in meinem Heimatort Mohsdorf einige Familien des braunen Volkes in dem mittleren der drei Gräfschen Güter und flehten um Unterkunft für die Nacht. Die Bauersleute hatten ein Herz und gaben den Fremden eine leere Kammer. Sie wurden auch mit warmer, stärkender Suppe bewirtet, und zum Lager reichte der Bauer reichlich Stroh. Der Dank der Gäste erfolgte auf eigenartige Weise: Ein Zigeunerweib trat vor und sprach zu den gastfreundlichen Bauersleuten: "Dieses Haus wird niemals vom Feuer ergriffen werden!" Alte Einwohner Mohsdorfs sind der festen Überzeugung, dass die Prophezeiung des Weibes eingetroffen sei, blieb doch das Wohnhaus beim Brande der Scheune und der Nebengebäude unversehrt. Aber das war schließlich das Verdienst der Feuerwehr und hilfsbereiter Nachbarn und nicht irgendwelcher geheimnisvoller Mächte.

Der Aberglaube erzählt auch, dass die Zigeuner Meister im Feuerbesprechen seien. Sie stellten den sogenannten Feuerreiter, der das brennende Haus auf einem alten Klepper umreitet und dem Feuer damit die Gewalt nehmen sollte. Diese törichte Ansicht wurde von den Zigeunern natürlich weidlich zu ihrem Vorteil ausgenützt.

Anfang der 1890er Jahre erlebte ich ein nächtliches Zusammentreffen mit Zigeunern in Berthelsdorf. Mit meinem um zehn Jahre älteren Bruder zog ich nach einem Besuch des Lunzenauer Jahrmarktes heimwärts in Richtung Mohsdorf. Mitternacht nahte schon. Doch im Gasthaus "Waldschlösschen" brannte noch die Petroleumlampe. Wir betraten das einsam gelegene Wirtshaus und wollten uns dort etwas ausruhen. Die Wirtin war allein und ließ es sich anmerken, dass Gäste um diese Zeit nicht erwünscht waren. Wir saßen noch gar nicht lange, als von der Straße Pferdegetrappel und Wagenknarren hörbar wurden. Entsetzt eilte die Wirtin nach der Haustür, um schreckensbleich zurückzukommen mit den Worten: "Eine große Zigeunerbande hält vor dem Haus und will herein". Gleich darauf pochten die ungebetenen Gäste mit Ungestüm an die verschlossene Tür. Wir rieten zum Öffnen. Mit Widerstreben schloss die Wirtin auf, und herein drängte ein baumlanger Kerl mit einer Frau, wohl der Anführer, und hinter ihm das übrige braune Volk. Männer und Frauen waren in Lumpen gehüllt. Eine Ausnahme machte nur der Anführer mit seiner Zigeunerschönheit. Das Paar nahm an unserem Tisch Platz, und es dauerte gar nicht lange, so waren wir mit den Fremden in angeregter Unterhaltung. Der Zigeunerprimas fand sich in der Geografie Sachsens entschieden besser zurecht als wir. Kein Wunder, denn wer so die Landstraßen bewohnt kennt auch das Land und die Bewohner. In der Hand hielt der junge Mann eine ganz neue, riesige Pferdepeitsche. Auch der ganze Anzug ließ den Pferdehändler vermuten. Die junge Frau aber hielt es unter ihrer Würde, mit uns zu sprechen. Sie imponierte indes durch ihre Schönheit. In der Tat, das Weib hatte etwas Frappierendes, um nicht zu sagen Dämonisches an sich. Hervorgebracht wurde dieser Eindruck vor allem durch das reiche, schwarze Haar, die dunklen, glänzenden Augen und den Bronzeton der Haut. Kaffee wurde aufgetragen. Alle drängten sich heran, um sich zu laben und den durchfrorenen Körper zu wärmen. Gar zu gern wären die späten Gäste die Nacht über geblieben, doch davon wollte die Wirtin nichts wissen. Die Zigeuner, an derartige Behandlung gewöhnt, murrten nicht und begaben sich zu ihren Wagen. Mein Bruder und ich warteten auf Verlangen der Wirtin noch eine Weile. Dann gingen auch wir. Die Straße war leer, doch im nahen Gückelsbergwald verriet ein loderndes Feuer den Lagerplatz des fahrenden Volkes.

Meine letzte Begegnung mit Zigeunern erlebte ich 1930 im September an der Bahnstrecke zwischen Burgstädt und Cossen, wo zwei Zigeunerinnen am Feuer hockten und Kaffee kochten. Das Brennmaterial entnahmen die beiden dem Schutzzaun an der Eisenbahn, nicht dem nahen Wald. Ich erfuhr vom Bahnwärter, dass die Frauen öfter hier weilten, auch Wasser und Milch im Bahnwärterhaus erbettelten und auf ihre Männer warteten, die in der nahen Stadt als Scherenschleifer ihr Gewerbe trieben.

Es ist bekannt, und diese Beobachtung machte ich auch, dass sich das rätselhafte Volk der Zigeuner zu Rast und längerem Verweilen gern Örtlichkeiten wählt, die schon von alters her als Lagerplätze bekannt sind. So konnte sich die "Wasserschenke" in Röhrsdorf des öfteren derartigen Besuches erfreuen. Dort hielten die Wandernden oft ihre Festlichkeiten, Hochzeiten und Kindtaufen ab. Zwischen Draisdorf und Glösa liegt ganz versteckt und ganz dicht an der Chemnitztalstraße ein aufgelassenes Kalkwerk. Dort blieben die Zigeuner ganz ungestört tagelang, besserten und wuschen ihre Wäsche und zogen erst von dannen, wenn die Frauen mit ihren Arbeiten fertig waren. In Köthensdorf gaben die Ruinen des abgebrannten Schenkgutes einen guten Unterschlupf. "Besser situierte" Banden führten Zelte mit. So lagerte am 15. September 1892 eine starke Zigeunerbande mit 19 Wagen und 70 Köpfen auf dem Schützenplatz in Limbach. Auch durch Mohsdorf zogen in den 1880er Jahren manchmal sehr starke Gruppen. Ihr Lagerplatz war der Gasthofgarten. Beliebt war auch die Gegend an der Steinbank an der Limbach - Rabensteiner Straße. Es trug der Stelle den Namen Zigeunerecke ein.

Eine gute Einnahmequelle der Zigeunerinnen bestand im Kartenlegen und in der Weissagung aus den Linien der Hand. Jeder aufgeklärte Mensch weiß heute, dass es so etwas nicht geben kann. Vor einem halben Jahrhundert (um 1900 herum) war die Sucht, einen Blick in die Zukunft zu tun, noch groß. Besonders die Frauen waren es, die immer wieder auf solche Prophezeiungen hereinfielen. Vielleicht glaubten es die Zigeunerinnen selbst. Wer kann es wissen?

Und wenn die Zigeuner hier und da einmal mein und dein verwechselten, so geschah es nicht, um Reichtümer zu sammeln, sondern um sich das nackte Leben zu erhalten. Die Ursachen für solche Vorkommnisse sind in der damaligen Gesellschaftsordnung zu suchen. Die herrschenden Kreise hatten kein Interesse, dieses Minderheitenproblem zu lösen. Auch lag es gar nicht in ihrer politischen Konzeption. Seit einem Vierteljahrhundert sind die Zigeuner von unseren Landstraßen verschwunden, und ihr Fehlen wird vom Standpunkt der Romantik der Landstraße her als Verlust empfunden.

gekürzt, nach Emil Müller (1958)